Erschienen in: Zeitschrift für wissenschaftliche Pädagogik 66 (4.1990), S. 478-497.
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URL dieser Online-Publikation: www.hengelhaupt.de/medien-und-bildung.
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Bildung als Erkenntnis des Unaussprechbaren.
Über Sprache und Wahrheit bei Meister Eckhart*
Tilman Bechthold-Hengelhaupt
Ein Spielmeister oder Lehrer, der sich in erster Linie darum sorgte, ob er auch dem ‚innersten Sinn‘ nahe genug sei, wäre ein sehr schlechter Lehrer. Ich zum Beispiel habe, offen gestanden, meinen Schülern zeitlebens niemals ein Wort über den ‚Sinn‘ der Musik gesagt; wenn es einen gibt, so bedarf er meiner nicht.
Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel1
Der Begriff der Bildung ist der Theologie Meister Eckharts nicht nur dadurch verbunden, daß er sich in Wort und Sache in dieser gründet – wie man weiß, ist das deutsche Wort Bildung in seinem pädagogischen Sinn von Meister Eckhart geprägt worden. Vielmehr kommt wohlverstandene Bildung mit Eckharts Reflexionen auch in der Überzeugung überein, das, was die Weitergabe von Wissen und von Gedanken im Innersten zusammenhält und damit erst zur Bildung macht, sei im Grunde unaussprechbar. Die Frage, der dieser Artikel nachzugehen versucht, lautet dann: wie kann etwas sprachlich vermittelt werden, das unaussprechbar ist?
Die Erörterungen gehen dabei von Eckharts Begriffen der Wahrheit und des Bildes aus und wenden sich dann dem Problem der Sprache zu.
Bevor wir uns den Texten Meister Eckharts im einzelnen, d.h. als erstes der Frage nach der Vermittelbarkeit der Wahrheit zuwenden, sollen zunächst einige Grundzüge einer Pädagogik angedeutet werden, die sich am Transzendenten zu orientieren versucht und die deshalb in der Formulierung ihres Bildungsbegriff auf Meister Eckharts Denken zurückgreifen kann. Dabei soll zugleich die ontologische Basis skizziert werden, auf der auch die Erörterungen zu Wahrheit und Sprache beruhen.
Deshalb zurück zu Hesses Musikmeister. Wie ist das Verhältnis des Unterrichts zu dem unaussprechlichen Sinn der Sache selbst zu denken? Oder konkreter: Was sollte ein Lehrer tun, der mit einer solchen Frage nach dem Sinn seines Gegenstandes konfrontiert wird? Nur so viel läßt sich allgemein sagen: er wird versuchen, dieser Frage ihre Offenheit zu erhalten. [478|479]
Die Offenheit, in die die Frage nach dem Sinn führen soll, ist, in den Worten des Freiburger Philosophen Wolfgang Struve, „ein Anzeichen von Transzendenz“:2
der Überstieg über alles überhaupt führt in das Offene und führt also streng gedacht nirgendwohin.3
Daß auch er das Transzendente meint, zeigt der Musikmeister bei Hesse im letzten Satz des oben angeführten Zitats: der Sinn, der hier als eine Erscheinungsform der Transzendenz erfaßt werden soll, bedarf dessen nicht, der in ihm lebt. Er ist dem persönlichen Belieben unzugänglich, denn er übersteigt alle Zwecke und Gründe und liegt ihnen zugleich zugrunde; er umgreift sie.
Nicht nur die Inhalte, sondern gerade auch das, was Hesses Musikmeister als den Sinn des Unterrichts bezeichnet, sind dem Willen nicht verfügbar. Das ist sehr wohl von praktischer pädagogischer Bedeutsamkeit.
Für den Pädagogen Theodor Ballauff steht Eckhart als Zeuge einer Tradition, die von dem Gedanken ausgeht,
„…uns Menschen zeichne zwar das Denken aus, aber dieses habe vor allem die Eigenschaft, den menschlichen Selbstbezug aufzuheben und sich in dieser ‚Exzentrizität‘ den Sachen, Wesen, Mitmenschen und ihren Verhältnissen zuzuwenden.“ 4
Aus einer Zusammenfassung der theologischen Positionen Eckharts entwickelt Ballauff deren Konsequenzen für den Bildungsbegriff:
„‚Bildung‘ erfordert demnach zweierlei: 1. loszukommen von den Dingen und Menschen; 2. loszukommen von sich als Wille und Selbstsein.“5
auch dort, wo ballauff sich nicht explizit auf eckhart bezieht, finden sich vielfältige parallelen zwischen beider denken. zentrales motiv der schrift „pädagogik als bildungslehre“ ist der einspruch gegen die hypostasierung des willens, gerade auch in der pädagogik.
Die Wendung gegen den Willen steht im Denken Eckharts an zentraler Stelle. Sie ist das Moment, welches vielleicht am deutlichsten für die Fragen der Pädagogik von belang ist.
In seiner Predigt „beati pauperes spiritu“ bestimmt Eckhart die in Matth.5.3 geforderte Armut folgendermaßen:
„Daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhat.“6 (Das ist ein armer Mensch, der nichts will, nichts weiß und nichts besitzt).
Dieser Gedanke ruht auf dem ontologischen Konzept Eckharts auf. In dem auf das Zitat folgenden Passus klingt dies an: in der ursprünglichen Einheit mit dem Einen war das Ich reines, ungeschaffenes Sein:
(„Ich was ein ledic sin und ein bekennen min selbes nach gebruchlicher warheit“).7
Dieses Ich war Eines, in dem keine Unterschiede statthatten, folglich auch keine Spaltung in Wollen, Erkennen und Handeln. Die präskriptive oder ethische Seite dieser Spekulationen besteht nun darin, daß es für Eckhart gilt, diese ursprüngliche Einheit [479|480] des Seins wieder zu erreichen, aber wiederum nicht unter Einsatz des Willens; ein System der Ethik, das etwa konkrete Handlungsanweisungen gäbe, ist damit zugleich obsolet geworden.
So ist es nicht nur der immense historische Abstand, der es schwierig, wenn nicht gar unmöglich macht, Eckharts Denken in Richtung von pädagogischen Handlungsanweisungen umzuformulieren, sondern die Frage nach dem Handeln überhaupt. Dem neuzeitlichen Denken ist kaum etwas so selbstverständlich wie dies, daß das Gute oder Erforderliche durch Handeln, durch richtiges oder rechtes oder vernünftiges, aber eben immer durch Handeln ins Werk gesetzt wird. Eckhart dagegen kommt es auf das Sein an, auch in den Fragen, die man als ethische bezeichnen könnte, soll heißen, die darauf zielen, wie das Gute zu verwirklichen sei. In den Reden der Unterweisung8 heißt es, dem Lehrcharakter dieser Schrift entsprechend klar formuliert:
„Die Leute brauchten nicht soviel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie seien. …Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein …(S. 57)“
Die Kategorie des Willens ist Eckhart also deshalb fragwürdig, weil sie den Menschen zuerst von seinem als selbstgesetzt gedachten Handeln her versteht und nicht vom Sein her. Wenn, wie heute, Werte und ihre Begründbarkeit in Frage stehen, ist der Blick auf Denken angeraten, das sich, in heutiger Terminologie, als transzendent zu verstehen versucht.
Der pädagogische Raum, in dem das Transzendente als letzter, undenkbarer, weil unüberschreitbarer Horizont wenn nicht im eigentlichen Sinne gedacht, so doch mitgedacht wird, ist also nicht „handlungsorientiert“. Er enthält keine „Werte“, keine letztgültigen Gegebenheiten. Jeder einzelne Gegenstand ist dort etwas Beispielhaftes, ein einzelnes Seiendes, das im Lichte des Transzendenten ein eigenes Leben erhält und zugleich in seinem eigenen Wert relativiert und begrenzt wird von dem alle Werte Übersteigenden.
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Die Frage nach der Vermittelbarkeit der Wahrheit erörtert Eckhart an verschiedenen Stellen seiner Predigten und Traktate. Seine Vorstellung hat er verschiedentlich in einem Axiom zusammengefaßt: Erkenntnis kommt von (oder beruht auf) Gleichheit.9 Eckhart führt ihn als Satz der Tradition ein („Die Meister sagen…“, eine Formel, mit der er immer heidnische Philosophen meint), wendet ihn aber dahingehend, daß Erkenntnis Gottes nur als Überstieg in das „fünkelîn“ der Seele möglich ist, in den Teil der Seele, in dem die Einswerdung mit Gott statthat.
In verwandelter, säkularisierter Gestalt lebt dieses Axiom, „bekanntnisse komt von glîchnisse“, auch heute noch in Unterricht und Didaktik fort, dort nämlich, wo der Anspruch erhoben wird, die Vermittlung von [480|481] Bildungsstoffen müsse an den Interessen und Fragestellungen der Schüler ansetzen, oder, im Jargon, die Schüler müßten „dort abgeholt werden, wo sie sind“. Der Gedanke, der sich bis auf Empedokles von Agrigent zurückverfolgen läßt, hat in seiner modernen Gestalt den dynamischen, ja utopischen Gehalt verloren, den er bei Eckhart noch hatte: zwar wird auch in der modernen Variante des Axioms eine bestimmte Identität zwischen Erkennendem und Erkanntem postuliert, aber der bestimmende Pol ist der Erkennende, in unserem Beispiel also der Schüler. Damit ist die Gefahr groß, daß er auch derjenige ist, der sich im schlechten Sinne identisch bleibt, also sich nicht ändert, während die Sache, das zu Erkennende, ihm angepaßt wird. Der Mensch wird zum Maßstab des Erkenntnisvorgangs und kann so gar nicht mehr in die Erkenntnis „überbildet“ werden.
Dieses Unterrichtsprinzip ist einerseits dann richtig, wenn es gewährleisten soll, daß die Schüler sich wirklich auf die fragliche Sache einlassen können. Es kann also auf der Ebene der Methodik einführende, vorbereitende Funktion übernehmen. Andererseits verleitet es dazu, unkritisch den jeweils herrschenden, von den Schülern tatsächlich oder vermeintlich goutierten Zeitgeschmack zur Grundlage des pädagogischen Bemühens zu erklären. Aus dem erkenntnistheoretischen Axiom wird so unter der Hand eine Maxime, die der Frage nach der Wahrheit im Unterricht keinen Platz mehr einräumt, indem sie das Seiende vor das Sein stellt.
In Eckharts Wendung des Axioms verhindert die kaum ausmeßbare Spannung im Begriff der Seele – die Spannung nämlich zwischen der Ichheit und damit Besonderheit der Seele und ihrer gottzugewandten Allgemeinheit –, daß Erkenntnis als Erkenntnis des Gleichen sich auf die Wahrnehmung des ohnehin schon im Gesichtskreis Liegenden reduziert. Das moderne Bild von der Seele ist aber, trotz oder vielmehr gerade infolge der modernen Psychologie, so reduziert, daß Erkenntnis nicht auf Verwandlung hinzielt, zumindest nicht auf eine derart umfassende Verwandlung, wie Eckhart sie intendiert. Der Gedanke, das Seiende zu übersteigen sei möglich, ist vielfach entweder ganz geschwunden oder fristet in Form privater und beliebiger esoterischer Praktiken ein verzerrtes Dasein. Der in der klassischen Bildungstheorie des 19. Jahrhunderts noch präsente Gedanke, daß das Ich sich zumindest zeitweilig sich selbst entfremden muß, indem es sich der Sache hingibt, um sich so auf einer höheren Stufe erneuert zu finden, dieser Gedanke, ohne den Bildung schwerlich denkbar ist, wird heute weitgehend als Zumutung empfunden. Aber ist Bildung ohne die Erfahrung von Zumutungen denkbar?
Die Spannung, aus der die Bildung möglich wird, ist in der Seele selbst vorzufinden, aber eben nur dann, wenn sie nicht planiert wird, wenn sie, wie es bei Eckhart einmal heißt, „nach oben unbedeckt“10 ist, so daß sie den Weg zu dem, dem sie gleich ist und werden soll, überhaupt finden kann. [481|482]
Eckharts Deutung der Erkenntnis ist eng mit seiner Vorstellung von Bildung und mit seinem Bildbegriff verknüpft. Das zu Erkennende selbst ist dabei der bestimmende Pol im Erkenntnisprozeß. Es ist mit dem Unaussprechlichen zu identifizieren. Wie ist nun Eckharts Position zu verstehen? Zunächst: wovon ist sie abzusetzen?
Wenn es eine vorgängige Entsprechung zwischen Erkennendem und intelligibler Welt gibt, die die Erkenntnis ermöglicht, dann kann der Erkennende diese Entsprechung nutzen, indem er bei Wahrung des identischen Kerns das Erkannte als Wahrheit formuliert. Er wahrt dabei die Identität des Erkannten, formt sie aber um in sprachlich Formulierbares und führt so das Moment der Differenz in die Einheit des Erkenntnisvorgangs ein, und zwar durch die Form der als Eigenschaft von Sätzen prädizierbaren Wahrheit, also durch die Sprache, die, wie unten zu zeigen sein wird, immer durch Differenz bestimmt ist.
Dennoch ist die Wahrheit, wenn sie als Eigenschaft von Sätzen verstanden wird, nicht gänzlich unwahr, denn zwischen dem wahren Satz und dem Erkannten besteht das Verhältnis der aequalitas, der Gleichheit im Sinne der Isomorphie, die eine strukturelle und quantitative Übereinstimmung meint, und keine Seinsgemeinschaft. Diese Art von Gleichheit hat ihren Grund nach wie vor in der Erkennbarkeit der intelligiblen Welt und sucht die ursprüngliche Einheit der Erkenntnis umzusetzen und abzubilden.
Aber Erkennbarkeit verwandelt sich so unter der Hand in Formulierbarkeit, und diese in Objektivierbarkeit. Der so eingegrenzten und allererst bestimmten und damit zum Objekt gewordenen Welt des Erkennbaren tritt das Subjekt der Erkenntnis gegenüber, das aus der Gleichheit, indem es in sie die Sprache einführte, die Differenz gewann – aber auch zugleich seine, des Erkenntnissubjekts Identität; denn diese, als vielleicht sogar stolz behauptete, ist einzig in der Differenz zum Erkannten zu haben.
Man sieht, daß dies nicht Meister Eckharts Weg ist. Eckhart denkt Erkenntnis als Überstieg des Erkennenden in das Sein des Erkannten. Der Erkennende wird zu dem, was er erkennen wollte. Erkenntnis ist damit nicht mehr sein Akt, ist auch nicht von seinem Willen abhängig, sondern wird zu einem Geschehen dessen, was in der erstgenannten Tradition als Erkenntnisobjekt verkannt wurde:
„Und was zuvor du suchtest, das sucht nun dich; wem du nachjagtest, das jagt nun dir nach.“ (Ü 58)
Genau genommen wird der Erkennende auch nicht zum Erkannten, sondern ist es immer schon, da ja das Erkennen an Gleichheit liegt. In einer Art ontologischer Anamnesis wird er, indem er erkennt, zu dem, was er immer schon war, bevor er in das Vereinzelte, Unerkannte eintrat. Das Ereignis, das hier als ontologische Anamnesis bezeichnet wurde, ist das Geschehen, das auch schon bei Eckhart als Bildung bezeichnet wird. Die Seele bildet oder überbil-[482|483] det sich in Gott, indem sie mit ihm eins wird. Daß Bildung auch in der säkularisierenden Tradition immer das Konnotat nicht nur der Übernahme, sondern der Anverwandlung behält, hat hier seine Wurzel. Zugleich liegt in Eckharts Denken aber auch die vielleicht letzte Entwicklungsstelle des Bildungsbegriffs, an der Bildung als Einheit im Sein verstanden wurde, bevor sie in der Säkularisierung zur Bezeichnung einer wie ernst auch immer genommenen Eigenschaft von Individuen geriet.
Um das Gesagte zu verdeutlichen und zu belegen, soll hier eine kurze Predigt in ihrem Verlauf nachgezeichnet werden. Es handelt sich um die Predigt „Nunc scio vere, quia misit dominus angelum suum“,11 die sich ganz dem Problem der Erkenntnis widmet.
Das Predigtwort dient Eckhart, wie auch sonst oft, zunächst nur als Orientierungspunkt, von dem er schnell auf einen Satz kommt, den er „auch sonst schon gesagt“ hat und den die Hörer vermutlich bereits kennen: „Erkenntnis und Vernunft vereinigen die Seele mit Gott.“ (165). Diese Vereinigung wird näher als Geburt des Sohnes in der Seele bestimmt (165), die sich nach dem Durchbruch der Seele in Gott ereignet. Nur wenn der Sohn selbst in der Seele geboren wird, kann Gott erkannt werden; denn nur der Sohn erkennt Gott. Das wird auf zwei Wegen gezeigt: einmal an dem Wort der „Meister“, daß Erkenntnis an Gleichheit hänge, zum anderen an Worten der Schrift.
Im nächsten Schritt erklärt Eckhart den Unterschied zwischen der Erkenntnis in diesem Leben und der Erkenntnis „dort“, wobei offenbleibt – und mit Bedacht offengehalten werden muß – , ob mit „dort“ nur das jenseitige Leben oder auch eine bereits in diesem Leben, aber nach dem Durchbruch der Seele in Gott erreichbare Erkenntnis gemeint ist. „Dort“ ist wahrhafte Erkenntnis der Wahrheit möglich, weil das Licht, in dem erkannt wird, göttlich ist und weil damit Täuschung ausgeschlossen ist; weil die Erkenntnis unverhüllt, „lauter“ und „bloß“ (166.3) ist.
Diese Adjektive, die als Epitheta ornantia erscheinen könnten, sind durchaus mit Bedacht gesetzt: die Wahrheit ist „dort“ ungeteilt und eins, frei von Zufall und ohne jede Beimengung von Nicht-Wahrheit. Was das heißt, wird aus dem dritten Grund für die Überlegenheit der „dortigen“ Wahrheit erkennbar: hier sind die Dinge wandelbar und einander fern, d.h. Zeit und Raum unterworfen, „dort“ dagegen nicht. Bei Gott ist alles Gegenwart, und daß es für die Menschen bedeutsam ist, wenn Gott ein „Gott der Gegenwart“ ist, zeigt Eckhart an anderer Stelle.12
War bis hierher vieles aus platonischer und neuplatonischer Philosophie bekannt, so zeigt sich nun, wie Eckhart es so in seine Theologie einfügt, daß dann auch der Bildbegriff thematisiert werden kann.
Daß Gott den Engel zur Seele sandte, wie das Predigtwort sagt, interpretiert Eckhart als Voraussetzung der Erkenntnis. In dem Bild des Engels, der zur [483|484] Seele kommt, bestätigt sich, daß die Erkenntnis von Gott und nicht von der Seele ausgeht (166.13).
Es schließt sich eine der für Eckharts Sprache typischen Bildfolgen an:
„Erkenntnis aber hat den Schlüssel und schließt auf und bricht durch und findet Gott unverhüllt. (…) Erkenntnis geht vorauf. Sie ist eine Fürstin und sucht Herrschaft im Höchsten und Lautersten und gibt es an die Seele weiter und die Seele weiter an die Natur und die Natur an alle leiblichen Sinne.“(166.17ff.)
Was hier geschildert wird, hat Züge einer „unio mystica“, wenngleich festzuhalten ist, daß dieser Durchbruch ein intellektueller Vorgang ist und nicht notwendig an einen Moment gebunden. Vor allem aber geschieht hier keine Vereinigung oder Einung mit etwas anderem – und es ist nur dann sinnvoll, von Vereinigung zu reden, wenn zwei vorher getrennte Dinge sich vereinigen. Im Fortgang betont Eckhart aber, daß die Seele „nach Gott gebildet (ist) in ihrem obersten Teile“ (166.29.f). Der Durchbruch der Erkenntnis in Gott ist demnach eine Rückbildung der Seele in ihr Urbild.
Der Engel ist „ein näheres Bild Gottes“ (166.30 f.); es bedarf seiner Vermittlung, damit die Seele zu „demselben Bild“ gebracht werden kann, „nach dem sie gebildet ist“ (166.32 f.), also zu Gott. An dieser Stelle tritt wieder das Axiom ein, daß Erkenntnis aus Gleichheit fließt: weil dies so ist, strebt die Seele zurück in ihr Urbild, dem sie gleich ist in dem Sinne, daß sie von ihm ihr ganzes Sein hat, so wie ein Bild sein Sein von und in seinem Urbild hat.
In diesem „ersten Bild“, in das die Seele aufgrund ihrer Erkenntnisfähigkeit strebt, sind „alle Dinge eins“, „und dort kommt sie zur Ruhe, das heißt: in Gott.“(166.34-167.1). Damit schließt die Deutung des Erkenntnisvorgangs ab; was im weiteren Verlauf der Predigt angefügt wird, ist vor allem der Gedanke, daß nichts Fremdes in Gott fallen kann, sondern daß, „was immer in Gott kommt,…verwandelt“ wird(167.24.). Daraus folgt, daß auch die Seele in der Erkenntnis in Gott verwandelt wird.
Die Struktur der hier entwickelten Ontologie, vor allem der Bildbegriff, der in ihr eine hervorragende Rolle spielt, wird in der Forschung unter den Stichworten Analogie und Univozität diskutiert. Es geht in diesen Diskussionen unter anderem um die Frage, ob angesichts der vorgängigen Einheit von Seele und Gott überhaupt von einer mystischen Vereinigung gesprochen werden kann, aber auch darum, ob das geschaffene Seiende ausschließlich im Verhältnis der Analogie zum Sein und damit zu Gott steht, oder ob im „fünkelîn der sele“ nicht doch Univozität (Gleichnamigkeit) zwischen Gott und der Seele besteht. Diese Debatte kann hier nicht weiter verfolgt werden; festzuhalten ist, daß sich an diesen Fragen und damit am Bildbegriff die Deutung Eckharts entscheidet.13
Denn was bedeutet es, daß das Bild sein Sein vom Urbild hat? Eine Analogielehre, wie sie etwa Thomas von Aquin entfaltet, betont am Bildverhältnis, das [484|485] zwischen Gott und Kreatur herrscht, das Nebeneinander von Identität und Differenz. Das Bild ist seinem Urbild zwar analog, aber es ist auch von ihm unterschieden, sonst wäre es kein Bild, sondern die abgebildete Sache selbst. So einleuchtend es sein mag, daß ein Bild auch ein wie gering auch immer ausfallendes Moment von Differenz zu seinem Urbild enthalten muß – diese Vorstellung von dem, was ein Bild ist, muß dennoch nicht notwendig auf die Ontologie übertragen werden, vor allem deshalb, weil sie selbst auf einem Vergleich beruht, dem nämlich zwischen den ontologischen Bildverhältnissen und den Bildern, die wir aus der Anschauung kennen. Eckhart vergleicht das Verhältnis zwischen Sein und Seiendem (oder zwischen Gott und Seele) mit dem Verhältnis zwischen Spiegelbild und dem gespiegelten Gegenstand,14 also nicht mit dem Verhältnis zwischen einem z.B. gemalten Bild und seiner Vorlage. Von letzterem Verhältnis her kann man wohl sagen, daß zwischen Bild und Urbild das Verhältnis der Analogie herrscht. Eckhart aber zieht gerade das Spiegelbild als Vergleich heran, um sagen zu können:
„Bild und Urbild ist so völlig eins und miteinander vereint, daß man da keinerlei Unterschied erkennen kann. … Gott mit seiner Alllmächtigkeit vermag da keinerlei Unterschied zu erkennen, denn es wird miteinander geboren und stirbt auch miteinander.“15
Zwischen Bild und Urbild steht kein vermittelndes Drittes; das Bild selbst ist das Vermittelnde. Dieses Vermittelnde kann, auf das innertrinitarische Geschehen bezogen, mit dem Sohn und dieser wiederum mit der Weisheit identifiziert werden;16 entscheidend ist hier, daß zwischen Bild und Urbild eine Seinsgemeinschaft besteht, in der das Bild sein ganzes Sein vom Urbild her empfängt und deshalb „nicht aus sich selbst“ ist (Ü 226), und in der es ebenfalls „nicht für sich selbst ist“ (ebd.), sondern dem Urbild „gänzlich gehört“ (ebd.). Das göttliche Urbild geht aber über das Spiegelbild der Anschauung darin hinaus, daß es seine ganze Natur in das Bild hineingibt, also nicht nur, wie jenes, die Erscheinung. Deshalb weiß sich der Mensch in seinem Innersten gleich mit Gott, ohne allerdings selbst etwas zu sein, d.h. ohne aus sich selbst oder für sich selbst zu sein. Die größte Aufwertung des Menschen (weil er in Seinseinheit mit Gott steht) geht also mit seiner denkbar radikalsten Abwertung (weil er ohne eigenes Sein ist) einher. Der Begriff, der in diesem Widerspruch vermittelt, scheint mir der der (menschlichen) Natur zu sein:
„Das ewige Wort nahm nicht diesen noch jenen Menschen an, sondern es nahm eine freie und ungeteilte menschliche Natur an, die da rein war, ohne Individualzüge (sunder bilde)…Und darum, weil bei der Annahme die menschliche Natur von dem ewigen Wort einfaltig ohne Individualzüge angenommen wurde, darum wurde das Bild des Vaters, das der ewige Sohn ist, zugleich zum Bild der menschlichen Natur. …Und so denn ist die menschliche Natur darin überbildet, daß sie das göttliche Bild geworden ist, welches das Bild des Vaters ist.“17
Dort also ist die Seele Bild Gottes und damit mit Gott eins, wo sie sich mit der menschlichen Natur identifiziert. Später wird aus diesem Gedanken die Forderung, der Gebildete müsse die ganze Menschheit repräsentieren und so [485|486] über seine individuelle Begrenztheit hinauswachsen; im Denken Heideggers entspricht der menschlichen Natur die Menschlichkeit. Auch dies ist in den Begriff der Bildung wieder aufzunehmen, daß der Einzelne lerne, sich auch und gerade im Subjektivsten, Innersten mit den Anderen vereint, versammelt zu sehen.
Wenn es also an anderer Stelle heißt, „das Innerlichste und das Edelste, das in der (göttlichen) Natur ist, das erbildet sich ganz eigentlich in das Bild der Seele“ (Ü 225), so ist damit sehr wohl ein Bildungsgeschehen angesprochen, aber eines, das von der göttlichen Natur ausgeht und nicht von einem Subjekt, und das sich nicht auf eine individuelle Einzelseele, die dann Subjektkern eines gebildeten Individuums wäre, sondern auf die menschliche Natur, das Mensch-Sein richtet. Entsprechend ist der „Inhalt“ der Bildung, wenn das Wort hier angemessen ist, nicht zuerst dieses oder jenes, auch nicht die Summe oder ein möglichst großer Ausschnitt aus diesen und jenen Dingen oder Inhalten, sondern zuerst das Sein: das Bild in der Seele nimmt Gott, „wie er ein vernünftiges Sein ist, und das Edelste der (göttlichen) Natur erbildet sich ganz eigentlich in das Bild“ (Ü 225).
Analog dem Widerspruch, daß der Mensch zugleich nichts ist und wie Gott ist, verläuft jener, daß die Seele, wie aus der Interpretation der Predigt „Nunc scio vere…“ erhellte, sich erst auf dem Weg zur Erkenntnis befindet, obwohl sie doch immer schon Bild (oder Spiegel) der göttlichen Natur ist. Um die Bilder der genannten Predigt wieder aufzugreifen: des Engels bedarf die Seele, insofern sie auf dem Weg ist; wenn sie aber Bild Gottes ist, steht sie auch über dem Engel.
Dieser Widerspruch läßt sich mit Hinweisen auf die verschiedenen, abgestuften Kräfte der Seele, von denen Eckhart öfters redet, nicht beseitigen, sondern er wird vielmehr verständlich als der Grund der Spannung, die die Seele bestimmt, die Spannung zwischen dem Noch-nicht und dem Immer-schon.
Eckharts Interpretation des Bildes ist, was ihre Bedeutung für die Idee der Bildung betrifft, auch eine Reflexion des biblischen, v.a. des paulinischen Bildbegriffs, in dem die in allen späteren Begriffen der Bildung wirkende Spannung schon angelegt ist. Winfried Böhm hat dieses Verhältnis so zusammengefaßt:
„…wäre der Mensch nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen, könnte er gar nicht in ein Bild Gottes verwandelt werden; und der Mensch kann andererseits in ein Bild Gottes verwandelt werden, weil er dieses nicht gleich mit seiner Erschaffung ist, sondern erst werden soll. Diese Spannung zwischen dem Bild, das der Mensch – fügen wir hinzu: der Möglichkeit nach – ist, und dem Bild, das er – fügen wir hinzu: der Wirklichkeit nach – werden soll, eröffnet den Blick auf die Bildung des Menschen.“18
In den Bildungstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts, vor allem bei Herder, Hegel und Humboldt, hat sich, so Winfried Böhm weiter, aus der mystischen Bewegung der Entbildung von der Welt und der Einbildung in Gott der nun für den Bildungsbegriff „konstitutive Rhythmus von Entäußerung und Selbstbesinnung“ entwickelt. [486|487]
Bestimmend für die Bildung bleibt, daß der Mensch (bei Humboldt) „von sich aus zu den Gegenständen außer ihm übergeht“, oder, bei Hegel, daß er „die eigene Subjektivität ins Allgemeine hinein“ abarbeitet. Der Subjektivität wird dabei aber, wie auch immer dialektisch vermittelt, ein höherer Rang beigemessen als in der Bildtheorie Eckharts, die sich, auf den Bildungsbegriff hin ausgelegt, so verstehen läßt: Bildung heißt, zum Spiegel des Seins zu werden.
Pädagogisch bedeutsam an der hier skizzierten Erkenntnislehre sind auch ihre Konsequenzen für die Frage, wie denn Unterschiede in der Erkenntnis derselben Sache zwischen verschiedenen erkennenden Personen entstehen können. Das Problem, daß die Vermittlung der Wahrheit bzw. die Ermöglichung der Erkenntnis anderer bei diesen eine vorgängige „Gleichheit“ mit dieser Erkenntnis voraussetzt, eine Prädisposition, und daß deshalb nie eine völlige Übereinstimmung der Menschen in derselben Erkenntnis zu erlangen ist, hat Eckhart an verschiedenen Stellen erörtert. Für ihn war die Konsequenz, daß Dogmatismus als das (vermeintliche) Wissen darum, auch für die anderen Recht zu haben, ausgeschlossen war. Am Ende seines Traktats „Das Buch der göttlichen Tröstung“ gibt er zu, es sei unmöglich, diejenigen, die ihn nicht verstehen und die ihm deshalb vorwerfen, er sage die Unwahrheit, zu überzeugen. „Mir genügt’s, daß in mir und Gott wahr sei, was ich schreibe und spreche“ (Ü 138); für die Wahrheit bürgt letztlich allein das unverfügbare Innere, die Seele in ihrer Beziehung zu Gott.
Allerdings liefe diese Position Gefahr, zu einem unfruchtbaren Solipsismus zu erstarren, wenn sie undialektisch absolut gesetzt würde. So verlöre sie auch jede pädagogische Dimension. Das ist bei Eckhart nicht der Fall, der sich als christlicher Theologe immer auch vom Liebesgebot und der damit verbundenen Aufforderung zur Mission leiten läßt:
„Soll man nicht ungelehrte Leute (be-)lehren, so wird niemals wer gelehrt, und so kann niemand (dann) lehren oder schreiben. Denn darum belehrt man die Ungelehrten, daß sie aus Ungelehrten zu Gelehrten werden.“ (139).
Auf die Lehre als äußerliches Weitergeben der Wahrheit zu verzichten, hieße, die Ungelehrten allein zu lassen. Andererseits kann die Wahrheit nie ganz vermittelt werden. Dieses Dilemma, so erinnert Eckhart, findet sich schon im Neuen Testament:
„Sankt Johannes verkündet das heilige Evangelium allen Gläubigen und auch Ungläubigen, auf daß sie gläubig werden, und doch beginnt er das Evangelium mit dem Höchsten, das ein Mensch über Gott hier auszusagen vermag…“ (ebd)
In der Schlußbitte des Traktats, die, wie oft bei Eckhart, nur scheinbar formelhaft ist, gibt er einen Hinweis, wie der Widerspruch zumindest für die Erkenntnis aufzuheben sei:
„Der liebreiche, barmherzige Gott, die Wahrheit (selbst), gebe…, daß wir die Wahrheit in uns finden und gewahr werden. Amen.“(ebd).
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Wenn nicht die Wahrheit selbst gibt, daß sie erkannt werde, dann bleibt sie entweder unerkannt oder zerfällt für die Menschen in disparate Teilwahrheiten. Erkenntnis, zumal gemeinschaftliche („…daß wir erkennen…“) kann nur durch Gnade ermöglicht werden. Gnade ist hier anzusehen als der theologische Name für die Fähigkeit der Wahrheit, sich selbst zu vermitteln. Es ist somit der Begriff der Wahrheit als der Fähigkeit des Transzendenten, sich der Seele in der Erkenntnis zuzusprechen, der zwischen dem Feld der Pädagogik und dem der Spekulationen der Mystik vermitteln kann.
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Die Erkenntnis der Wahrheit ereignet sich in der Seele; das Transzendente, das, wenn überhaupt, sich der Seele zuspricht, ist unaussprechbar. Wie läßt sich nun die sprachliche Seite dieser Vermittlung der Wahrheit denken, ihre Thematisierung in der Rede und ihr Eintritt in das Gespräch der Menschen?
Für den hier zur Rede stehenden Zusammenhang stellen sich diese Fragen so: Wie reflektiert sich im Denken der Mystik die Spannung zwischen dem unaussprechlichen Transzendenten, dem Ort der Wahrheit,die mit Gott gleichgesetzt wird, und der Sprache als dem Ort, an dem die Wahrheit sich einer materiellen Basis, der Schrift oder dem Laut anvertrauen muß?
Das Unaussprechliche wird zunächst als Phänomen im Lichte des Zeichenbegriffs untersucht; in einem zweiten Schritt wird die historische Erscheinung des Widerspruchs von Wahrheit und Sprache in den Spekulationen der Mystik erörtert, so daß schließlich in einem Vergleich von zeichentheoretischem und mystischem Denken angedeutet werden kann, welche Eigenschaften der Sprache ihr ein Eingehen in das Sein verwehren.
In der neueren sprachwissenschaftlichen Terminologie gehört das Wort „unaussprechlich“ zu den metasprachlichen Ausdrücken, in denen sich die Sprache auf sich selbst bezieht. Damit ist der Ausdruck rekursiv: er gehört selbst in den Bereich (oder, logisch gesprochen, in die Klasse) dessen, das er bezeichnet, und unterliegt damit dem Russellschen Paradox; bekanntestes Beispiel für dieses ist der Satz „Der Kreter sagt: ‚alle Kreter lügen.'“ Soweit und solange diese Rekursivität besteht, ist das Paradox nicht auflösbar: es bleibt ein echtes Dilemma.
Dieses Dilemma war auch in der Tradition der mystischen Theologie bereits wohlbekannt. Eckhart beruft sich in der folgenden Zusammenfassung des Paradox auf Augustinus:
Quod si illud est ineffabile, quod dici non potest, non est ineffabile quod vel ineffabile potest dici.
(Wenn aber das unaussprechlich ist, was nicht ausgesprochen werden kann, so ist es nicht unaussprechbar, weil es doch immerhin unaussprechbar genannt werden kann.)“19
[488|489]
Augustinus‘ Empfehlung für den Umgang mit diesem Paradox ist typisch für mystisches Sprachdenken:
„Quae pugna verborum silentio cavenda potius quam voce pacanda est.
(Dieses Paradox soll eher durch Schweigen bewahrt als mit Worten aufgelöst werden.)
Wenn das Dilemma sich auch nicht auflösen („pacare“) läßt, so läßt es sich doch in einem zeichentheoretischen Exkurs genauer beschreiben. Es sei hier an das dreifach gegliederte Beziehungsgefüge des Zeichens erinnert, wie es schon in den logischen Untersuchungen der Stoa entdeckt und dann in den Sprachtheorien der Scholastik formuliert wurde: voces signifikant res mediantibus conceptibus;20 d.h. die Worte oder äußeren Lautbilder bezeichnen die Dinge (im linguistischen Terminus: die Referenten) unter Vermittlung von Vorstellungen, also nicht direkt oder unmittelbar. Unter den Konzepten ist das Gemeinte zu verstehen, das Signifikat, das streng sowohl von der bezeichneten Sache als auch von dem Lautbild zu unterscheiden ist. Es ist die Vorstellung, die erkannt werden muß, damit eine Verständigung über eine Sache erreicht werden kann. Daraus folgt auch, daß ich das, was ein anderer meint, sei es gesprochen oder geschrieben, niemals so zu meiner Vorstellung machen kann, daß seine und meine Vorstellung identisch werden. Weil im Sprechen das Gemeinte nie unmittelbar, sondern nur durch die Vermittlung der Zeichen anwesend ist, ist Sprache immer mit Auslegung verbunden.
Im Lichte dieser Theorie der Bezeichnung läßt sich das Problem des Unaussprechlichen in der Relation zwischen dem Signifikat und dem gemeinten Gegenstand auffinden. Das Transzendente, das sich in der Dimension der Sprache als das Unaussprechbare darstellt, kann nicht wie andere Gegenstände der Welt gedacht und folglich auch nicht wie diese „gemeint“ werden. Es kann also nicht Inhalt des Signifikats werden. Wäre dies nämlich möglich, dann wäre es einer Operation unterzogen worden, die seinen ontologischen Status veränderte und wäre damit zum Objekt geworden oder, mit anderen Worten, „überstiegen“. Das Unaussprechbare wäre zu „etwas“ geworden, wie alles Gemeinte dem Bewußtsein „etwas“ sein muß, damit es zu einem Gegenstand der Rede werden kann.
Das Transzendente kann also nicht wie andere Gegenstände gedacht werden. Über das Transzendente nachzudenken kann nur heißen, auf dieses hin zu denken, den Versuch zu unternehmen, das Denken und damit in einer bestimmten Weise sich selbst, den Denkenden, zu überschreiten.
Entsprechend kann das Wort (die Zeichenkette, der Signifikant) „das Unaussprechliche“ dann nicht dieses selbst bezeichnen bzw. eine zutreffende Vorstellung von ihm vermitteln, sondern nur den Punkt andeuten, an dem der Versuch einer Überschreitung „von allem überhaupt“ und somit auch des je eigenen Denkens beginnen kann. Das Wort deutet diesen Punkt, der immer der Grenzpunkt zum Paradoxen ist, dadurch an, daß es selbst als Ausdruck für etwas Unaussprechliches paradox ist.
[489|490]
Angemessen kann eine Rede vom Unaussprechlichen nur dann sein, wenn sie den, an den sie gerichtet ist, in die dialektische Denkbewegung mit hineinnimmt.
Damit ist das Dreieck der Zeichenrelationen bereits um die dialogische Dimension erweitert. Da der andere das, was ich meine, immer nur in den äußeren Zeichen hat, die er wahrnimmt, aber ihm meine Vorstellungen nie unmittelbar zugänglich sind, ist in jedem Dialog immer schon ein gehöriges Maß an Unsicherheit mitgesetzt. Da man im Alltag gewöhnlich oder überwiegend über Bekanntes spricht, macht diese unüberwindliche Unmöglichkeit einer vollständigen Angleichung der Vorstellungen sich nicht notwendig geltend. Je unbekannter aber der Gegenstand ist und je enger das Gemeinte an den Einzelnen, der es zur Sprache bringen will, gebunden ist, desto schwieriger wird die Verständigung.
Die philosophische Rede hat schon seit jeher gegen die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten opponiert, die, indem sie dem alltäglichen Sprechen zugrunde gelegt werden, eine trügerische Gemeinschaft stiften. An der Frage des Unaussprechlichen verschärft sich das Problem, denn vor dem Transzendenten ist jeder prinzipiell allein. Das vor uns Liegende zu überschreiten ist jedem nur als einzelnem möglich, wie das Sterben. Weil ich mir über das Transzendente nicht wie über andere Dinge eine Vorstellung machen kann, kann ich auch anderen keine Vorstellung davon vermitteln, sondern nur den Punkt andeuten, an dem der Weg der Verneinung des vor uns Liegenden beginnt, den Punkt, an dem die Erfahrung des Transzendenten einsetzt. Hier setzt wieder jener Grundsatz ein, daß Erkenntnis von Gleichheit kommt: der Andere kann mich nur dann verstehen, wenn er diese Erfahrung des Paradoxen kennt.
Der Unaussprachbarkeitstopos erscheint bei allen mystischen Denkern, von Augustin über Pseudo-Dionysios bis zur „Theologia deutsch“. Im Satz von der Unaussprechbarkeit Gottes reflektiert sich die Ferne des Menschen von Gott: diese, nicht die Einheit mit Gott, ist der Horizont, in dem mystisches Denken beginnt.
Zunächst ist zu fragen, wie die mystische Sprache sich selbst sah. Gerade im Sprachverständnis zeigen die Texte mystischer Schriftsteller viele Gemeinsamkeiten. Deshalb wird zunächst ein Text zugrunde gelegt, der ohne jeden Zweifel als mystisch zu gelten hat, nämlich die „Mystische Theologie“ des Pseudo-Dionysios Areopagites. Der Autor dieses Textes gab sich als der in der Apostelgeschichte (17.34) erwähnte Dionysius, ein von Paulus bekehrter Grieche, aus. Heute weiß man, daß er erst um das Jahr 500 geschrieben haben kann, aber eine Identifizierung des Autors mit einer historischen Persönlichkeit dieser Zeit ist noch nicht gelungen.21
Der kurze Text der „Mystischen Theologie“ läßt die wichtigsten Aussagen und Intentionen des mystischen Denkens erkennen: Dionysios sucht seinen Adres-[490|491] saten einen Weg zu Gott zu weisen; jener letzte Ort aber, das „Dunkel des Schweigens“ ist „nie zu erreichen“. 22
Die Suche nach Gott verweist auf die Sprache, und diese auf ihre eigene Begrenztheit, denn über Gott läßt sich nichts ausagen, und das „wirkliche mystische Dunkel des höchsten unerkennbaren Lichtes“ ist, wenn überhaupt, nur im Schweigen zu erreichen.
Drei Weisen, in denen die Sprache selbst aufgehoben werden muß, lassen sich in den Meditationen der „Mystischen Theologie“ erkennen: Gott wird nichts zugesprochen, sondern nur alles abgesprochen; die Sprache wird durchgehend paradox; und schließlich wird die Negation der Sprache im Schweigen vollendet.
Der erste Schritt, die via negationis, bedeutet den völligen Verzicht darauf, Gott Eigenschaften beizulegen. So muß Gott auch das Höchste und Allgemeinste abgesprochen werden, da auch dies nur Höchstes in menschlichen Worten ist.
In der „Mystischen Theologie“ versucht Dionysios ausdrücklich, seine in früheren Werken unternommenen Beschreibungen Gottes und der ihm gemäßen Sprache zu überwinden. In den „Göttlichen Namen“ hatte Dionysios die möglichen Prädikationen, die auf Gott zutreffen, und in der „Symbolischen Theologie“ die Vergleiche untersucht, „mit deren Hilfe wir Göttliches durch sinnlich Faßbares versinnbildlichen.“ Die in seinem übrigen Werk entwickelte Lehre, auch und gerade die neuplatonisch inspirierte Stufenlehre wird in der „Mystischen Theologie“ nun nicht derart negiert, daß etwas anderes an die Stelle des dort Behaupteten träte, auch nicht das Gegenteil dessen, sondern
„jetzt geht es um die reine Überwindung jeder Bestimmtheit, also um das Aufhören der Gültigkeit von Worten und Gedanken überhaupt.“
Dionysios setzt für sein Denken den Satz vom Widerspruch ausdrücklich außer Kraft. So sagt er: der Urgrund enthält alles Sein und alles Nichtsein in sich, „ohne daß du deshalb etwa glauben darfst, daß diese Verneinungen jenen Bejahungen widersprechen.“.
Im zweiten Schritt, dem Paradox, etwa der für die mystische Sprache typischen Rede vom „vor lauter Finsternis strahlenden Licht“, unternimmt die Sprache den Versuch, das Unaussprachbare zu umschreiben. Dieses nämlich unterliegt keinem Gesetz, also auch nicht dem, es müüsse als Sachverhalt zu beschreiben sein. Das Paradox ist keine bestimmte Negation; vielmehr verstellen die einander widersprechenden, aber auf denselben Gegenstand sich beziehenden Bedeutungsgehalte – in unserem Beispiel „Licht“ und „Dunkel“ -, dem Verständnis jeden Weg zur Konstruktion eines bestimmten Gegenstandes, der als solcher eben wieder aussprechbar wäre.
Auf die Spitze getrieben wird, drittens, die Negation der Sprache im Schweigen. Das Schweigen beginnt dort, wo einer alles hinter sich gelassen hat, was [491|492] mit dem geschaffenen Seienden zu tun hat, und damit auch das „zeugende Wort“. Dionysios führt das Beispiel Moses‘ an, der auch erst unmittelbar vor Gott „…endlich…alles auf irdische Gegenstände gerichtetes Wissen zum Schweigen bringt.“
Aber auch das Schweigen ist wieder verneint. Schwiege der Mystiker nur, gäbe es ja seine Texte nicht. Das ist weniger banal, als es klingt; dem Schweigen steht immer geradezu der Zwang gegenüber, den Weg der Gedanken und Erfahrungen auch im Sprechen nachzugehen. „Wäre hier niemand gewesen, ich hätte (diese Predigt) diesem Opferstocke predigen müssen“, heißt es bei Meister Eckhart.
Faßt man den Begriff der Mystik nicht zu eng, dann läßt sich eine Geschichte christlicher mystischer Literatur von Augustin bis zum Barock (etwa bis zu Jakob Böhme und Angelus Silesius) nachzeichnen, ein immer wieder auflebender Unterstrom der europäischen Geistesgeschichte. Dabei wird man, durch die Definitionsprobleme beim Begriff der Mystik vorsichtig geworden, bei vielen Theologen mystische Elemente feststellen, sie aber nicht in allen Teilen ihres Denkens als Mystiker ansprechen. Das gilt für Augustin ebenso wie für Meister Eckhart.
Alle diese mystischen Denker stoßen an bestimmten Punkten ihrer Reflexionen oder Erfahrungsberichte auf das Problem der Sprache: sie müssen sich ihrer bedienen, obwohl sie um ihre Unzulänglichkeit wissen. Daß diese Sprachnot nicht zu resigniertem Stammeln und Verzicht, sondern vielmehr gerade zur Entfaltung der sprachlichen Mittel anregt, ist schon an der erstaunlichen Formenvielfalt zu sehen, in der die mystischen Texte verfaßt wurden: die Palette reicht vom gebetsartigen Selbstgespräch, den Soliloquien des Augustinus, über die Viten der süddeutschen Nonnen oder eines Heinrich Seuse bis zu den Alexandrinern im „Cherubinischen Wandersmann“ des Angelus Silesius (Johannes Scheffler). Auch Scheffler spricht über die Unausprechlichkeit Gottes:
Gott ist so über all’s, daß man nichts sprechen kann;
drum betest du ihn auch mit Schweigen besser an.23
Mystische Texte kreisen um ein nie erreichbares Zentrum; dieser Bewegung entsprechen die eher punktartigen Ausdrucksmittel des Paradox und des Vergleichs, weniger die linearen des Erzählens und der scholastischen „Summe“, der ausladenden Systemkonstruktion. Auch insofern ist es einleuchtend, wenn Kurt Ruh zwar Meister Eckharts deutsche Predigten, aber nicht seine lateinischen Werke, die der Scholastik näher stehen als jene, als mystisch bezeichnet. In diesen Predigten und Traktaten Eckharts gewinnt die Sprachreflexion der Mystik ihre höchste Prägnanz, weil die Sprache selbst zum Medium der Erfahrung wird.
[492|493] Bei Eckhart sind die expliziten Sprachreflexionen oft am Begriff des Wortes orientiert. So findet die Gottesgeburt in der Seele als Einfließen des ewigen Wortes statt. Es ist das Wort, in dem Gott erfahren wird, und mehr noch als bei anderen Mystikern ist der Abstieg der Vernunft in ihren göttlichen Grund ein sprachliches Geschehen. Das, was in Worte gefaßt oder, wie Eckhart sagt, „gewortet“ werden kann, muß daher aus diesem göttlichen Grund entspringen; Sprechen ist ein Wiederaufstieg aus dem Grund der Seele:
„Was in eigentlichem Sinne in Worten geäußert (‚gewortet‘) werden kann, das muß von innen heraus kommen und sich durch die innere Form bewegen, nicht dagegen von außen herein kommen… Es lebt recht eigentlich im Innersten der Seele.“24
Der Begriff „Wort“ hat bei Eckhart drei verschiedene Bedeutungen:25
- Die Kreatur ist „ein Sprechen Gottes“.26 Dieses Wort ist von Gott „hervorgebracht“; es ist das Seiende, das das göttliche Sein anzeigt, aber nicht „ist“, so wie das Wort der gesprochenen Sprache das Gemeinte nur anzeigt.
- Das Wort der menschlichen Sprache ist „gedacht und vorgebracht“, aber „vorgebracht“ vom Menschen, der es zuerst in Gedanken formt (so daß es ‚gedacht‘ ist), um es dann auszusprechen (‚vorzubringen‘).
- Das ewige Wort schließlich ist „unvorgebracht“ und „ungedacht“. Es verbleibt ewig im innertrinitarischen Zirkel und ist das eigentlich unaussprechliche Wort, aussprechbar nur für Gott selbst: „Got ist ein wort, das sich selben sprichet“.27
Zu diesem ewigen Wort sollen wir (und können wir nur) „bîwort“ sein.
Karl-Otto Apel interpretiert die Tradition der Logos-Mystik, wie er sie nennt, als einen der wichtigsten Grundströme des abendländischen Sprachdenkens, ohne den eine Transzendental-philosophie der Sprache in der Gegenwart nicht möglich wäre.28 In der Reflexion über das geschaffene und das ungeschaffene Wort wird eine Auffassung von Sprache vorbereitet, die das Sein in der Sprache aufschließen will. Wenn das Mittelalter der Reflexion über Sprache auch noch nicht die Autonmie und die Bedeutung einräumte, die sie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat, so bereitet sich doch gerade in der Mystik, die immer mit dem Problem ihres eigenen Zu-Wort-kommens konfrontiert ist, eine solch hohe Gewichtung der Sprache vor.
Gerade am Verhältnis des vom Menschen „gedachten und vorgebrachten“ Wortes (des zweiten der drei Bedeutungen von „Wort“), also dessen, was wir Sprache nennen, zum ewigen Wort, läßt sich zeigen, wie kohärent und stimmig das Bild von der Sprache ist, das sich ergibt, wenn man die Linien der mystischen Sprachreflexionen auf die Erkenntnisse der modernen Sprachwissenschaft hin verlängert.
Vier Eigenschaften der Sprache verwehren es ihr, in den Grund des Seins einzugehen: sie ist erstens nach außen gerichtetes Wirken und Handeln, sie ist zweitens der Zeit verhaftet, drittens beruht sie auf Unterschieden und viertens [493|494] auf Vermittlungen. Jede dieser vier Bestimmungen wird sowohl in der modernen Linguistik und Sprachphilosophie als auch in der mystischen Sprachreflexion thematisiert; im säkularisierten Denken der Moderne erscheint dabei als Leistung, was im fundamental theologischen Denken der Mystik als Verhaftetsein der Sprache an ihr kreatürliches Substrat dem Kreatürlich-Vergänglichen zugerechnet wird.
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- Sprache ist nicht nur eingebettet in menschliches Handeln, sondern ist selbst Handeln. Daß ich im Sprechen immer in anderen etwas bewirken will, war schon eine Erkenntnis der Rhetorik, die aus den eminent auf Wirkung ausgerichteten Handlungsfeldern der Politk und des Rechts geboren wurde; daß man im Sprechen selbst, in den sogenannten performativen Sprechakten handelt, wenn man z.B. etwas verspricht, ist Gegenstand vielfältiger Untersuchungen der Pragmatik, einer Disziplin der modernen Sprachwissenschaft. Sprechen ist damit z.B. für Augustin, der die Rhetorik aus seiner eigenen Erfahrung als Rhetoriklehrer kannte, der Wunsch zu herrschen. Zu Gott kann aber nur gelangen, wer völlig auf Werk, Wunsch und Macht verzichtet. Die Gottheit selbst wirkt nicht, ebensowenig das Ich, wo es in den Seelengrund durchbricht.
- Sprachliche Äußerungen dehnen sich in der Zeit (oder als Schrift im Raum) aus, während das Eine, der Grund, den der Mystiker anstrebt, Raum und Zeit nicht unterworfen ist. Die sprachliche Äußerung entspricht immer einer Linie, sie hat einen Anfang und ein Ende. Eine Äußerung, die ich getan habe, ist unwiderruflich vergangen; ich kann ihr nur eine andere Äußerung folgen lassen, die der anderen, ersten vielleicht widerspricht, aber einholen kann ich sie nicht mehr, weil der Zeitpfeil für den menschlichen Geist nur eine Richtung hat. Das Eine hingegen kann mit einem Punkt verglichen werden. Es steht über der Zeit, es ist „zîtlos“. Schon darum besteht eine wesentliche Differenz zwischen der Sprache und dem Einen.
Wenn nun also die Rede über das Unaussprechliche, wie wir gesehen haben, keine affirmative Aussage gelten lassen will, aber dennoch, als Rede, sich der Sprache bedienen muß, wenn aber zugleich nie ein Satz mit dem ihn negierenden Satz unmittelbar zusammenfallen kann, so ergibt sich als Form der mystischen Rede das Paradox, die Kette sich sukzessive aufhebender Sätze, die bei Eckhart oft mit dem zugleich adversativem und verknüpfenden „mer“ verbunden werden. - Das Eine, so ein neuplatonisches Theorem, ist in sich ungeteilt und ununterschieden, während Unterschied und Vielfalt die sichtbare Welt bestimmt. Dieser Gedanke wurde für die ganze Mystik
entscheidend. Was der Begriff des Unterschiedes (oder der Differenz) für die Sprache bedeutet, auch und gerade, soweit sie sich Gott nähern will, kann vielleicht erst im Lichte der modernen
Linguistik, die sich als eine Wissenschaft von den sprachlichen Differenzen etabliert, richtig gewürdigt werden. [494|495]
Sprache wird hier als System von Differenzen und Oppositionen aufgefaßt, und zwar auf allen Ebenen. Wörter stehen zueinander in Opposition durch lautliche Differenz (Baum / Raum) und grenzen sich im Wortfeld gegeneinander durch Differenzen in der Bedeutung ab. Ein Wort ist nur dann sinnvoll verwendet, wenn es in einem unterscheidenden Bedeutungszusammenhang mit anderen steht.Die Analyse der Differenzen geht so weit, daß die Sprache in ein reines Geflecht von Differenzen aufgelöst wird, in dem kein fester Sinn, keine Substanz mehr zu orten ist: ein Wort verweist immer auf ein nächstes usw. ad infinitum. Der französische Philosoph Jacques Lacan faßt diese Sicht der Sprache verschiedentlich in dem Bild zusammen, daß „der Ring des Sinnes auf der verbalen Schnur unserem Zugriff entflieht.“29<br/ >Der Sprache, die in erster Linie auf Unterschieden aufbaut, ist das ungeschiedene Eine also auch deshalb unzugänglich, weil in es keine Unterschiede fallen können. Daß es aber zugleich als Grenz- und Endpunkt des Sprechens fungiert, erhellt auch dann, wenn man von der Fundierung der Sprache in Differenzen ausgeht: das Eine steht in Differenz zu den Differenzen. Es kann zwar nicht in die immer schon differenzierenden Worte gefaßt werden, d.h. es kann nur benannt, aber nicht weiter differenziert werden; aber um es zu benennen, bauen wir notwendig eine Differenz auf, die nämlich zwischen dem Einen und dem Vielen und damit Differenzierten. Das oben angedeutete Paradox des Unaussprechbaren entfaltet sich auch unter dem Gesichtspunkt der unterscheidenden Verfahren der Sprache. - Während der innerste Seelengrund, der ja selbst Bild ist, frei ist von allen Vermittlungen und Bildern, geschieht das, was die Seele nach außen wirkt, durch Vermittlungen, zu denen auch die Sprache zu rechnen ist. Bilder weisen auf das hin, dessen Bild sie sind, und Zeichen weisen auf das hin, das sie bezeichnen; beide verweisen damit nach außen. An das oben über den Bildbegriff Gesagte läßt sich hier anschließen: das ewige Wort ist das Bild, es hat darum kein Bild, und die Seele kann es (in ihrem Grunde, in der Sohnesgeburt) „âne mitel und âne bilde“(Ü 345) begreifen, kraft der Univozität mit diesem ewigen Wort; außerhalb dieser Einheit aber entfaltet sich das Viele in Kategorien („Weisen“) und kann nur über Vermittlungen („mitel“) erfaßt werden. Hierzu ist nun auch die kreatürliche Sprache zu rechnen, denn diese muß sich auch in Kategorien entfalten, um Struktur und Kontur zu erwerben, und sie muß Bild sein, ohne daß sie mit dem Gegenstand, auf den sie verweist, völlig identisch wäre.
Allein das Wort Gottes ist „mitel âne mitel“, weil in ihm Inhalt und Form, Bezeichnendes und Bezeichnetes unmittelbar zusammenfallen. Das freilich ist dem kreatürlichen Wort niemals möglich, denn es ist als Element der Sprache, wie die Analyse der Zeichenstruktur gezeigt hat, nur vermöge des in ihm wal-[495|496]tenden Widerspiels zwischen Vermittelndem und vermitteltem Inhalt dem Verstehen zugänglich.
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Wie alle menschliche Sprache ist auch die pädagogische Sprache des Unterrichts auf die Umwege der Vermittlungen und Differenzen angewiesen; sie kann, auch wenn sie im Bildungsgedanken ihr Zentrum sieht, dieses nie unmittelbar zur Anschauung bringen. Die Ausführungen zur Bildstruktur in Eckharts Theologie und zum Unaussprechlichen sollten gezeigt haben, daß gerade dort, wo Bildung noch als Überstieg ins Absolute gedacht wurde, die Differenz zwischen dem konkreten Dasein des Einzelnen, der in den Unterschieden zu dem und den Anderen befangen ist, und dem einen Sein, aus dem er das Leben empfängt, steten Antrieb auf das Sein hin gab.
FUSSNOTE AUF SEITE 1:
* Teile dieses Aufsatzes stimmen mit der „Schriftlichen Arbeit zur Zweiten Staatsprüfung“ überein, die der Verfasser im Frühjahr 1989 beim Staatlichen Seminar für Schulpädagogik Freiburg (Gymnasien) eingereicht hat. Sie hatte das Thema „Sinndimensionen menschlichen Handelns im Sprach- und Literaturunterricht der Mittelstufe. Unter besonderer Berücksichtigung des pädagogischen Denkens Meister Eckharts“.
Anmerkungen
Ich werde im folgenden, wo ich nach der Übersetzung von Josef Quint zitiere (Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, hg. u. übersetzt v. J.Quint, München 1963), die Seitenangaben dieser Übersetzung im Text anführen bzw. mit „Ü“ kennzeichnen. Zunächst aber werde ich einige Zitate im Originalwortlaut wiedergeben.